Orthopädische Schmerztherapie

Orthopädische Schmerztherapie – Literatur

Die Orthopädie hat schon immer Schmerzen behandelt. Durch ärztliche Diagnose sollen schlimmere Krankheiten ausgeschlossen und eine sinnvolle Therapie eingeleitet werden. Das Erkennen und Auflösen der Ursachenbündels von Schmerzen ist aber oft eine schwierigere Aufgabe. Das Forschungsgebiet der „Orthopädische Schmerztherapie“ beschreibt und diskutiert die unterschiedlichen Ansatzpunkte zur Behandlung von Schmerzen und gibt detaillierte Hinweise zu den therapeutischen Möglichkeiten.

Die Orthopädische Schmerztherapie ist wesentlich geprägt durch die Arbeit und Veröffentlichungen von Prof. Dr. med. Jürgen Krämer und seinen Mitarbeitern und Kollegen der Orthopädischen Universitätsklinik Bochum.  In dem 1999 im Enke Verlag erschienen Buch „Orthopädische Schmerztherapie“ wird im speziellen Teil auf die Schmerzsyndrome der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule und von Hüfte, Knie, Fuß und Schulter eingegangen. Hier werden die speziell betroffenen nozizeptiven (schmerzempfindlichen) Strukturen besprochen, die das Ziel einer Intervention sind. Unterschiedlichen Vorgehensweisen gibt es bei akuten oder chronischen Schmerzen.

Der ausführliche allgemeine Teil des Buches stellt die Grundlagen der Schmerzentstehung und -verarbeitung vor. Das Zusammenspiel der einzelnen Untersuchungsmethoden ist notwendig: Anamnese und klinische Untersuchung, neuro-orthopädische Schmerzdiagnostik, manualmedizinische Untersuchung, bildgebende Verfahren, probatorische orthopädische Therapie und Injektion, Elektrodiagnostik, psychologische Schmerzdiagnostik und Einteilung der Chronifizierung.Die allgemeine orthopädische Schmerztherapie wird in vier Bereiche unterteilt:

1. Die kausale orthopädische Schmerztherapie durch Lagerung, Hilfsmittel, Manuelle Medizin, Physiotherapie und Haltungs- und Verhaltenstraining.

2. Die symptomatische Schmerztherapie durch therapeutische Lokalanästhesie, schmerzmodifizierende Medikamente, Wärme- und Kälteanwendungen, Massage, Akupunktur und Stoßwellentherapie.

3. Die allgemeine psychologische Verhaltenstherapie durch Informationsvermittlung, Übungen zur muskulären Entspannung, operante und kognitive Verhaltenstherapie, Biofeedbacktraing und klinische Hypnose.

4. Die Bewegung im schmerzfreien Raum, welche von der Beobachtung ausgeht, dass Bewegung Schmerzen abbaut.

Krämer J, Nentwig CG, Bade S. Orthopädische Schmerztherapie. Stuttgart: Enke; 1999.

Einen Einblick in die Denkweise von Prof. Krämer ist möglich durch folgenden Artikel im Deutschen Ärzteblatt.

Krämer J. Orthopädische Schmerztherapie. Deutsches Ärzteblatt. 1996; 93:A1961-1965.
Dieser Artikel ist direkt als PDF einsehbar unter http://www.aerzteblatt.de/pdf/93/30/a1961_65.pdf .

Prof. J. Krämer ist im Oktober 2011 verstorben.

Häufigkeit von orthopädischen Schmerzen

Erkrankungen des Stütz- und Bewegungsapparates zählen in der Regel zu den ersten ernsthaften Erkrankungen eines Menschen, die ärztliche Behandlung notwendig machen. Das Durchschnittsalter der Patienten mit den häufigsten Arbeitsunfähigkeitstagen wegen Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems liegt bei nur 41 Jahren!

Im frühen Erwachsenenalter halten die Schmerzen oft nur wenige Tage an. Jeder dritte Patient entwickelt aber im Laufe seines Lebens chronisch-rezidivierende Schmerzen, die ärztliche Behandlung erfordern. Deswegen überwiegen auch schmerzhafte orthopädische Erkrankungen bei der Rentengewährung aufgrund Erwerbs- und Berufsunfähigkeit. Der Anteil der bandscheibenbedingten Schmerzen nimmt um das 60 Lebensjahr wieder ab, dafür nimmt der Anteil der arthrosebedingten Schmerzen zu.

Am häufigsten sind Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule und des Hüftgelenkes (34%), gefolgt von Schmerzen in der Nacken- und Schulterregion (16%). Schmerzen des Kniegelenkes (12%)  und der Fußregion (12%).

Schmerzrezeptoren und Schmerzempfindung

Periost, Ligamente und Gelenkkapsel sind dicht mit Schmerz-Sinnesrezeptoren (Nozizeptoren) versehen. Diese freien Nervenendigungen reagieren auf mechanische, chemische und therapeutische Reize. Sie befinden sich an kleinen Blut- und Lymphgefäßen in Bindegewebsräumen oder direkt um größere Nerven als sogenanntes Endoneurium.

Die Nozizeption umfasst die Aufnahme des potentiell schädigenden Reizes durch die Schmerz-Sinnesrezeptoren und die Weiterleitung und zentralnervöse Verarbeitung der Signale. Nozizeptoren können ihre Reaktionsweise auf einen Reiz extrem verändern. Im gesunden Gewebe gibt es eine ganze Reihe von Nozizeptoren, die auf eine alltägliche Reize gar nicht ansprechen. In einem entzündeten Gewebe werden sie aber über die Ausschüttung von Gewebsfaktoren und über die Expression schmerzfördernder Gene (IEG) sensibilisiert.

Die Schmerzimpulse werden durch markhaltige Aδ-Nervenfasern oder marklose C-Fasern zum Rückenmark geleitet und dort weiterverarbeitet.  Es kann eine unmittelbare Verschaltung auf segmentale motorische und vegetative Reflexbögen erfolgen. Aufgrund dieser Reflexe kommt es zu Muskelverspannungen. Diese schützen den aktivierten Nozizeptor vor Bewegungsreizen, führen aber auch schnell zu sekundären Fehlhaltungen und Insertionstendinopathien.

Vegetative Veränderungen zeigt sich in Durchblutungsvermehrung- oder minderung, Temperatur- und Feuchtigkeitsunterschiede der Haut sowie in Empfindungsstörungen. Diese vegetativen Veränderungen sind ein objektives Zeichen der Schmerzkrankheit, d.h. sie sind bei genauer Untersuchung gut feststellbar und ändern sich mit der Intensität des Schmerzes. Leider sind sie aber schwer zu dokumentieren.

Der „Schmerz“ wird im Rückenmark durch unterschiedliche Nervenstraßen zum Gehirn geleitet. Verschiedene Areale des Gehirns sind für unterschiedliche Reaktionen zuständig: den Ort des Schmerzes feststellen, die Bedrohlichkeit des Schmerzes und die emotionale Reaktion auf den Schmerzes, eine Stressreaktion erfolgen lassen. Erst im Zusammenspiel dieser Gehirnareale entsteht der subjektiv erfahrene Schmerz. Diese Beobachtungen wurden bei Patienten gemacht, die durch einen Unfall zusätzliche Schädigungen einzelner Gehirnareale aufwiesen. Lag z.B. eine Schädigung des „Mandelkerngebietes“ des Gehirns vor, wurde der Schmerz zwar berichtet, aber nicht mehr als bedrohlich empfunden. Nicht alle Reaktionswiesen auf einen Schmerzreiz  lassen sich so klar einzelnen Gebieten zuordnen.

Das zentrale Nervensystem besitzt aber auch  schmerzhemmende Bahnen, die vom Gehirn zu den Verschaltungszellen im Rückenmark ziehen. Die Schmerzhemmung ist normalerweise immer aktiv. Dadurch wird nicht jeder Reiz als Schmerz bewusst und lenkt uns von anderen Sachen ab. Bei chronischen Schmerzen funktioniert die Schmerzhemmung nicht mehr korrekt. Die Schmerzhemmung lässt sich allerdings wieder aktivieren, u.a. durch Akupunktur und durch regelmäßige Bewegung.

Werden Schmerz-Sinnesrezeptoren stark und wiederholt aktiviert setzen sie ihre Reizschwelle herab. Sensibilisierte Nozizeptoren sprechen aufgrund ihrer herabgesetzten Reizschwelle schon auf „normale“ Bewegungs- und Temperaturreize an und melden sie auch als Schädigung an die übergeordneten Zentren weiter. Eine Anpassung des Körpers an diese nozizeptiven Reize ist nicht möglich. An Schulter-, Knie-, oder Kreuzschmerzen kann man sich dadurch nicht gewöhnen.

Bei Schmerzkrankheiten der Stütz- und Bewegungsorgane ist immer ein nozizeptiver Reiz erforderlich, um den Kreislauf der Schmerzkrankheit einschließlich gesteigerte Schmerzwahrnehmung im zentralen Nervensystem aufrecht zu erhalten. Um einen solchen Ablauf entstehen zu lassen, bedarf es zusätzlich einer bestimmten Disposition, d.h. nicht jeder Mensch entwickelt auf chronische Schmerzreize eine Schmerzkrankheit.

Chronische Schulter-, Nacken-, Rücken-, oder Gelenkschmerzen haben immer ein organisches Korrelat. Dieses entspricht aber bei der Schmerzkrankheit nicht direkt der Größenordnung der empfundenen Schmerzen.

Die therapeutische Beeinflussung von Schmerzen

Die komplexen Adaptionsvorgänge der Sensibilisierung auf morphologischer, neurophysiologischer und genetischer Ebene rückgängig zu machen, erfordert immer eine Kombination der Methoden auf Seiten des Arztes und Geduld auf Seiten des Patienten für die kleinen Fortschritte, die sich aber mit der Zeit summieren.Bei lang anhaltenden oder häufig wiederkehrenden Schmerzen hat sich leider die gesamte Reaktionsbereitschaft der Nervenzelle und des Nervensystems verändert. Die verstärkte Neubildung von Rezeptoren und Ionenkanälen ist eine Folge. Da die Nervenzelle veranlasst wurde, die Produktion verschiedener Proteine und Peptide zu verändern, dauert es einige Zeit, bis die Information wieder vergessen werden kann, wenn keine Aktivierung mehr erfolgt. Diese Zeit wird durch eine konsequente orthopädische Schmerztherapie zur Verfügung gestellt. Durch die unmittelbare Verbesserung der Bewegungsfunktion setzt die orthopädische Schmerztherapie dauerhaft an der Ursache des Schmerzes an.

—> Aufgabe der orthopädischen Schmerztherapie ist eine kausale Therapie mit dem primären Ziel der Herabsetzung der Nozizeption.:

  • durch die Modifikation schmerzauslösender Bewegungen und Körperhaltungen.
  • durch Therapeutische Lokalanästhesie, die die Nozizeptoren zeitweise ausschaltet,
  • durch den Einsatz bestimmter Medikamente und
  • durch die Aktivierung schmerzhemmender Bahnen des Rückenmarkes durch Bewegung und Akupunktur.

Die orthopädische Schmerztherapie wird meist an der Hals- und Lendenwirbelsäule durchgeführt. Hier sind die Vorraussetzungen für die Entstehung chronischer Schmerzsyndrome am ehesten gegeben. Dies ist bedingt durch die unmittelbare Nachbarschaft von

  • degenerativ veränderten Bandscheiben der unteren Hals- und Lendenwirbelsäule
  • der mit vielen Schmerz-Sinnesrezeptoren ausgestatteten Wirbelgelenkskapsel
  • des Wirbelsäulennerv selber, der einen Enzündungsschmerz oder einen neuropathische Schmerz entwickeln kann
  • und der durch den Reflexbogen beeinflussbaren Wirbelsäulenmuskulatur.

Für die großen Gelenke gilt prinzipiell dasselbe, wobei die arthrotische Veränderung des Gelenkes als typische Ursache hinzukommt.

Auf eine weitere Veröffentlichung im Bereich der orthopädischen Schmerztherapie möchte ich hinweisen, gerade auch, weil hier die Fortschritte der Schmerztherapie seit 1999 zu erkennen sind. Die Behandlungsalgorithmen und die Schmerztherapie an peripheren Gelenken werden wesentlich umfangreicher dargestellt.

Heisel, Jürgen, und Jörg Jerosch. Schmerztherapie der Halte- und Bewegungsorgane: Allgemeine und spezielle Schmerztherapie. 1. Aufl. Springer, Berlin, 2006.